Aus dem Seniorenheim 12.

Nein ist das neue Ja

Bild: Nikkolo Feuermacher

Was würde Maresi dazu sagen?“ frage ich mich noch als mich Joy aus ihrem Auto steigen lässt, als ich die Stiegen ins Dach hinauf steige – endlos. „Was würde Maresi dazu sagen?“ wenn ich die Tür aufsperre, quer durch den Raum die Dachluke aufreisse und aufs Bett falle. Mehr als das Bett zum Fallenlassen gibt es hier nicht. Aus der Dachluke fällt heisse Luft in den Raum. Als wäre ich in einem Backofen und jemand hat die Umluft eingeschaltet. Die Umluft ist heisser als Ober- und Unterhitze. Wird es kühler wenn die Sonne verschwunden ist? Nein, wird es nicht. Die Dachziegeln speichern die Sonnenwärme und geben sie nachts gleichmässig an die Umluft ab. Ich ziehe aus was ich ausziehen kann. Es ist trockener, aber nicht kühler.
Dünn sehr dünn.“ sagt Maresi.
Sie hat keine dünne Stimme. Sie klingt laut wie eine Ohrfeige nah am Trommelfell. So wie immer. Maresi ist – wahrscheinlich durch die Dachluke – hereingekommen.
Du sollst Thin Line between Love and Hate von The Pretenders spielen.
Ich greife mein Telefon, das gleich neben meinem Kopf liegt: „Das Stück heisst White Lines. Meinst Du das? Ist aber von Grandmaster Flash and the Furious Five.
Nein, das meint sie nicht!“ sagt der mit dem Rollator von ganz nah bei mir. Er sitzt auf meinen Beinen.
Thin Line between Love and Hate.
Spiel es uns!“ sagt die im Rollstuhl.
Ich wische herum und drücke ab: „Thin Line between Love and Hate, The Pretenders, 1983“ raundelt aus meinem Telefon ins Dachzimmer. Alle sind sie da: der mit der Stromrechnung, Parkinson, die im Rollstuhl, der mit der Elektrozigarette, Herr Breitner, Anastasiia, Irena, Yuliia, der mit dem Rollator, Maresi.
Sie singen „the sweetest woman in the world can be the meanest woman in the world if you make her that way“ laut mit und wiegen sich hin und her.
Wie eine Bluesnummer in den 80ern.“ sagt Herr Breitner.
Maresi hält die Gitarre von Chrissie Hynde, damit die besser singen kann.
Bei dir ist alles so DÜNN, Nemuszáj.“ sagt Maresi. „Es ist Unsinn nach Mexico City zu fliegen um die Tochter eines alten Mannes zu suchen. Die komplette Stadt ist voll mit Töchtern von alten Männern. Wie alle Städte auf der ganzen Welt.
Aber ich wollte schon immer mal fliegen.“ fiepe ich.
Geh in den Wurstlprater und flieg da. Das ist erträglicher für die Welt.
Zu dünn, Nemuszáj. Zu dünn: Wollte schon immer mal fliegen. Das ist viel zu dünn. Du bist der einzige von uns der noch lebt aber du gehst mit deinem Leben um als ob DU tot wärst.
Gehirntot.
Mein Freund Ferenc hat mir gesagt in Mexico-City ist es urhart. Dein Leben ist NICHTS wert wenn du kein Geld hast. Und wenn du Geld hast ist es etwas mehr wert aber es dauert nicht viel länger.
Dein Leben ist dir eh nichts wert, Nemuszáj. Aber dafür musst Du nicht nach Mexico fliegen.
Béla ist nach Guatemela geflogen. Der ist auch in Südamerika.
Dünn ist auch dein Wissen in Erdkunde, Nemuszáj. Südamerika ist im Süden – wie der Name schon sagt – von Amerika. Amerika ist ein länglicher, sanduhrförmiger Kontinent. Die Länder, die du gerade genannt hast: Guatelmala, Mexiko, sind in der Mitte dieses Kontinents. In der Mitte und nördlich von der Mitte.
Wenn du schnell verschwinden willst, Nemuszáj, kletter raus aufs Dach. Spar uns allen deinen blöden Abgang mit dem Flugzeug.
Ich bin zu dir gekommen Miklós, weil ich finde: dein Leben könnte etwas fetter werden. Wer sich wie ein Idiot behandeln lässt wird wie ein Idiot behandelt.
Ich hab dich nicht ins Seniorenheim geholt, damit du zuschaust wie sich die Alten schlagen. Ich hab dich nicht ins Seniorenheim geholt, damit du zuschaust wie die Alten noch ein paar Jahre verarscht werden.“ sagt der mit dem Rollator von meinen Knien aus. „Sagt man verarscht?“ fragt Yuliia. „Ja, ich sage VERARSCHT werden, ehe sie tot sind.“ sagt der mit dem Rollator.
Ich habe dich ins Seniorenheim geholt, damit die Alten ein paar gute Minuten haben. Drei bis vier gute Minuten mit einer Musik, die sie berührt. Drei bis vier Minuten Berührung tief drinnen.
Nemuszáj, das Lied ist aus. Wir gehn jetzt. Du wirst dich danach an nichts mehr erinnern.
Aber das wird dir nicht auffallen.
Versprochen.

Bis zum nächsten mal, euer Miklós Nemuszáj

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